Kritik am Wirtschaftswachstum
Wirtschaftswachstum ist nicht nur eines der zentralen Ziele von Regierungen und internationalen Organisationen, es kennzeichnet auch die langfristige Entwicklung von Staaten, denn seit Mitte des 20. Jahrhunderts ermöglicht es eine bedeutsame Steigerung der Lebensstandards in Ländern des globalen Nordens (vgl. WISSENSCHAFTLICHE ARBEITSGRUPPE FÜR WELTKIRCHLICHE AUFGABEN DER DEUTSCHEN BISCHOFSKONFERENZ 2018: 8). Auch Länder des globalen Südens profitieren von immer höheren Wachstumsraten, die Armut vermindern und den Wohlstand der wachsenden Mittelschicht steigern. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP), ein geeigneter Indikator des Wirtschaftswachstums, der die Produktion von Dienstleistungen und Waren im Inland nach Abzug aller Vorleistungen misst, verdeutlicht das rasante globale Wirtschaftswachstum in Billionen US-Dollar (WEIZSÄCKER & HORVATH 2018).
Obwohl das Wirtschaftswachstum seit Jahrzehnten kontinuierlich wächst wird immer offensichtlicher, dass stetiges Wachstum mit hohen ökologischen und sozialen Folgekosten einhergeht. Diese Folgekosten werden auf andere abgewälzt, etwa auf Menschen in prekären Lebenssituationen, die nicht vom Wirtschaftswachstum profitieren können oder auf zukünftigen Generationen. Immer mehr, immer schneller und möglichst preiswerter produzieren und konsumieren zu können verschärft menschenunwürdige Arbeitsbedingungen, wachsenden Leistungsdruck und führt auf Kosten der Natur zu hohen Schadstoffeinträgen und einen maßlosen Ressourcenverbrauch (vgl. WISSENSCHAFTLICHE ARBEITSGRUPPE FÜR WELTKIRCHLICHE AUFGABEN DER DEUTSCHEN BISCHOFSKONFERENZ 2018: 8). Ein Beispiel hierfür ist das von Rockström et. al. im Jahr 2009 entwickelte Konzept der planetaren Grenzen. Das Konzept zeigt auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse, dass anthropogene Tätigkeiten seit der industriellen Revolution zum Hauptantrieb globaler Umweltveränderungen geworden sind (vgl. VON WEIZSÄCKER & WIJKMAN 2017: 44). Insgesamt ermittelten die Wissenschaftler*innen neun für das menschliche Leben wesentliche „planetarische Lebenserhaltungssysteme“ und quantifizierten, inwieweit diese bereits belastet wurden:
Sobald menschliche Aktivitäten die neun ermittelten planetaren Grenzen, also Kipp-punkte oder Schwellenwerte, überschreiten, kann es zu irreversiblen und abrupten Umweltveränderungen kommen, die eine Gefahr für das Leben auf der Erde darstellen (vgl. ebd.). Die innere grüne Fläche in der Abbildung zeigt den von Rockström et al. vorgeschlagenen sicheren Handlungsraum, währenddessen die roten Keile den derzeitigen Zustand einzelner planetarer Systemelemente repräsentieren (vgl. BUNDESZENTRALE FÜR POLITISCHE BILDUNG 2017). Die bedrohte genetische Vielfalt, sowie Stickstoffkreisläufe und der Klimawandel gelten somit bereits als Hochrisiko für das Erdsystem, was nicht zuletzt durch das stetige Wirtschaftswachstum seit der industriellen Revolution bedingt wird. Die Fixierung auf das Wirtschaftswachstum muss also im Zusammenhang mit einer nachhaltigen Entwicklung kritisch betrachtet und diskutiert werden.
Beispiele der vorherrschenden Wachstumskritiken gehen von den Degrowth-Bewegungen aus, zu denen beispielsweise der Ansatz der Postwachstumsökonomie zählt. Es geht dabei nicht darum den Konsum, die Produktion und das BIP unumgänglich zu mindern, sondern darum, eine Wachstumsfixierung zu überwinden. Als Ziel gilt also weniger die Schrumpfung des Wirtschaftswachstums, sondern ein ganzheitlicher Umbau einer auf ökologische und soziale Ziele ausgerichteten Gesellschaft (vgl. WISSENSCHAFTLICHE ARBEITSGRUPPE FÜR WELTKIRCHLICHE AUFGABEN DER DEUTSCHEN BISCHOFSKONFERENZ 2018: 37). Weitere Kritik geht von Vertreter*innen der Postwachstumsgesellschaft aus. Da die meisten Gesellschaften trotz der Wachstumskritik und den Bekenntnissen zu einer nachhaltigen Entwicklung auf Wirtschaftswachstum und der Steigerung des BIPs setzen, wird auch hierbei eine Abkehr von der Wachstumsfixierung gefordert. Dies soll gelingen, indem zentrale ökonomische und gesellschaftliche Institutionen, wie der Arbeitsmarkt, die Sozialversicherung, Unternehmen, der Konsumsektor, öffentliche Finanzen und das Banken- und Finanzwesen umgestaltet werden, sodass sie weniger abhängig von dem Wirtschaftswachstum werden. Als Ziel gilt die Wachstumsunabhängigkeit (vgl. ebd.: 38).
Quelle: Brauns Julia; Masterarbeit zur Erlangung des akademischen Grades Master of Arts (M.A.); „Mensch & Mitwelt vor Profite – Wirtschaft neu denken!“: Konzipierung eines Schulklassenprojekts zum Themenbereich Solidarische Wirtschaftsweisen & Lebensstile auf Grundlage von Schülervorstellungen zur Solidarischen Ökonomie im Kontext einer Bildung für nachhaltige Entwicklung.
Dokumentationen zum Thema Wirtschaft und Kapitalismus:
DER KAPITALISMUS (2014): Woher kommt der Kapitalismus? Ist er eine natürliche Folge der gesellschaftlichen Entwicklung? Oder resultiert er aus Theorien, die im Laufe des politischen und technologischen Wandels entstanden sind ? Die Serie „Der Kapitalismus“ von ARTE begibt sich weltweit auf die Suche nach Antworten und schreckt nicht davor zurück, alte Idole zu stürzen und Vorurteile auszuräumen. In sechs Folgen werden Menschen aus 22 Ländern befragt, darunter Jäger aus dem Amazonas-Gebiet, die letzten Kommunisten Chinas und Börsenmakler aus New York. https://www.youtube.com/watch?v=d5eCMYmZ7NY&list=PLUv6tnDMi2o-HhjeoV0Otpt5aOhlgWp1w
1×1 DER WIRTSCHAFT (2016): Die 10teilige Doku-Serie des BRalpha „1 x 1 der Wirtschaft“ beschreibt spannend, witzig und fundiert, wie Wirtschaft entstand und wie sie funktioniert. In jeder der 15-minütigen Folgen erzählen prominente Experten aus der Praxis. Abrufbar bis 2025 unter https://www.br.de/fernsehen/ard-alpha/sendungen/1-x-1-der-wirtschaft/1-x-1-der-wirtschaft102.html
Literaturquellen:
BUNDESZENTRALE FÜR POLITISCHE BILDUNG (2017): Planetare Grenzen. Online unter: http://www.bpb.de/gesellschaft/umwelt/anthropozaen/248882/plane-tare-grenzen (24.11.2019).
POLANYI, Karl (2015): The Great Transformation – Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen (12. Auflage, Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft).
VON WEIZSÄCKER, Prof. Dr. Robert K. & HORVATH, Michael (2018): Bruttoinlandsprodukt (BIP). Online unter: https://wirtschaftslexikon.gabler.de/defini-tion/bruttoinlandsprodukt-bip-27867/version-251509 (24.11.2019).
WISSENSCHAFTLICHE ARBEITSGRUPPE FÜR WELTKIRCHLICHE AUFGA-BEN DER DEUTSCHEN BISCHOFSKONFERENZ (Hrsg.) (2018): Raus aus der Wachstumsgesellschaft? Eine sozialethische Analyse und Bewertung von Postwachstumsstrategien. Bonn: Deutsche Bischofskonferenz.